Weinbergschnecken: Die Entdeckung der Lang­sam­keit

Weinbergschnecken haben 40.000 Zähne, kriechen unbe­scha­det über Rasier­klin­gen, verschießen einen Liebespfeil und kön­nen ihr Haus reparieren.

Die Langsamkeit ist ein erfogreiches Konzept der Evolution: Schnecken gibt es seit 500 Millionen Jahren.

„Die kommt gleich raus“, beteuert Schnecken­züch­te­rin Rita Goller und weist auf ein großes Weinbergschneckenhaus, in dem sich eine of­fen­bar recht schüchterne Schnecke verbirgt. Die Schnecke lässt sich nicht hetzen. Erst nach ge­raumer Zeit bewegt sich die Vor­der­seite des Schneckenhauses langsam nach oben. Ein ein­zel­ner, mil­chig-gelber, fast transparenter Füh­ler schiebt sich unter dem Rand des Häus­chens heraus.

Ein punktgroßes schwarzes Stiel­auge er­kun­det die Umgebung. Zwei stummelartige Fühler an der Unterseite des Kopfes tasten den Un­ter­grund ab, das zweite Auge erscheint. Lang­sam streckt sich die Schne­cke, ge­mäch­lich setzt sie sich in Bewegung. Sehr gemächlich, im sprichwörtlichen Schneckentempo.

Die Scheune Delikatessen

Schnecken kriechen seit 500 Mil­lio­nen Jahren über die Erde

Beim geringsten Anzeichen von Gefahr zieht sie sich in ihr Haus zurück und wartet ab. Flucht gehört nicht zu ihrer Überlebensstrategie. Bei einer Höchstgeschwindigkeit von 0,003 Stundenkilometern würde ihr die wohl auch kaum gelingen. Stattdessen setzt die Schnecke auf Langsamkeit. Sie hat die Entschleunigung schon praktiziert, lange, bevor das Wort in Mode kam. Evolutionsgeschichtlich gesehen ist das Konzept ein Erfolg: Die ältesten fossilen Schneckenfunde wurden auf fünfhundert Millionen Jahre datiert.

Junge Weinbergschnecken sind dunkler als alte.

Nach den Insekten ist die Schnecke zudem das Lebewesen mit den meisten be­kann­ten Arten. Wie viele es gibt, weiß allerdings keiner so genau. Die Schätzungen lie­gen zwischen 43.000 und 100.000 Arten, mehr als die Hälfte davon lebt im Meer, etwa ein Drittel an Land, der Rest im Süßwasser und in Übergangszonen.

Die Weinbergschnecke (Helix pomatia) ist die größte und bekannteste an Land le­ben­de Gehäuseschnecke in Europa. Ausgewachsen wird sie bis zu zehn Zentimeter lang und wiegt etwa dreißig bis vierzig Gramm. Das Gehäuse erreicht einen Durch­mes­ser von gut fünfzig Millimetern und ein Gewicht von fünf bis sechs Gramm.

Schnecken können Fässer sprengen und über Rasierklingen kriechen

Rita Gollers Schnecke hat immerhin beachtliche fünf Zentimeter zurückgelegt, wäh­rend die Schne­ckenzüchterin über ihre Biologie geplaudert hat. Deutlich ist eine Schleim­spur auf dem Holzbrett zu sehen. Dieser Schleim, der den ganzen Schnecken­kör­per über­zieht, schützt das Tier vor Austrocknung, dient als Abwehrmittel gegen lästiges Klein­ge­tier wie etwa Ameisen und erleichtert die Fortbewegung, da er den Rei­bungs­wi­der­stand verringert. Auch schützt er den muskulösen, weichen Schne­cken­fuß vor Verletzungen. Gesunde Schnecken können sogar unbeschadet über Ra­sier­klin­gen kriechen.

Im Schneckenfuß haben sie zudem erstaunlich viel Kraft. Das bekamen frühere Schne­cken­händler zu spüren. „Sie transportieren Deckelschnecken in Fässern“, erzählt Rita Goller, die sich intensiv mit der Geschichte der Schneckenzucht im Lautertal aus­ei­nan­dergesetzt hat. „Wachten die Schnecken in den Fässern auf, sprengten sie die­se trotz der Eisenbänder.“

Schneckenwachstum: Rechts frisch geschlüpft, links zwölf Jahre alt.

Eine hungrige Weinbergschnecke lässt sich eben nicht aufhalten. Schne­ckenhunger wird unter anderem durch Regen ausgelöst. Deswegen tauchen Schnecken mit Vor­liebe dann auf, wenn das Salatbeet frisch gegossen wurde. In Hitze- und Tro­cken­pe­ri­oden sind Schnecken wenig aktiv, die Nahrungsaufnahme ist geringer. Lan­ge Re­gen­pe­ri­oden hingegen können einen regelrechten „Fress-Stress“ auslösen. Da­bei blei­ben Wein­bergschnecken Futterindividualisten; jede hat ihre eigenen Vor­lie­ben. Versetzt man sie im Garten, findet man sie nicht selten wenige Tage später wie­der am ur­sprüng­lichen Platz.

Die Weinbergschnecke gehört überdies zu den wenigen wirbellosen Tieren, die ihre Nahrung vor dem Verschlucken zerkleinern können. Auf ihrer Raspelzunge, der Radula, befinden sich bis zu 40.000 Zähnchen, die ständig nachwachsen. Wer Schnecken beim Fressen beobachtet, kann bei genauem Hinhorchen ein feines, reibendes Fress­ge­räusch hören.

Liebesleben im Schneckentempo: Vermehrung von Weinbergschnecken

Weinbergschnecken sind Zwitter und haben sowohl weibliche als auch männliche Ge­schlechtsorgane. Die Begattung erfolgt wechselseitig. Theoretisch ist es möglich, dass beide Tiere begattet werden und dann Eier legen. Das kommt aber nur selten vor. Wie alles andere vollzieht sich auch der Geschlechtsakt der Weinbergschnecke im buch­stäblichen Schneckentempo. Allein das Vorspiel, bei dem sich die Partner an­ei­nan­der aufrichten und sich mit Lippen und Fühlern betasten, kann bis zu zwanzig Stun­den dauern.

An diesem Schneckenhaus sind die Jahresringe deutlich erkennbar.

Während dem Liebesspiel kann es zum Einsatz eines kleinen Kalkpfeils kommen. Die­ser „Liebespfeil“ wird sieben bis elf Millimeter lang und enthält Hormone, die mit­hel­fen, dass das bei der Paarung übergebene Samenpaket die Eier auch be­fruch­tet. Um ihn einzusetzen stülpt sich die Schnecke nach außen, so dass der Pfeil in den Fuß des Partners gestochen wird. Er wird aber nicht bei jeder Paarung ver­wen­det.

Jungschnecken schlüpfen komplett mit Haus. Dieses ist noch weich, weil ihm das stüt­zende Kalkskelett fehlt. Erst mit der Kalkaufnahme durch die Nahrung härtet dieses aus. Bis dahin sind die Schnecken empfindlich und beliebtes Opfer von Fressfeinden wie Mäusen oder Elstern. Nur etwa fünf Prozent eines Geleges erreichen in freier Wild­bahn die Geschlechtsreife.

Bei 40.000 Zähnen ist ein Besuch beim Zahnarzt eine zeitraubende Angelegenheit. Gut, dass diese Tiere nicht zur Zahnreinigung müssen. Von wem ist die Rede?

Von Katzenhaien. Ausgewachsene Tiere haben 142 Zähne. Im Laufe des Lebens werden sie fast dreihundert Mal erneuert.

Von Würgeschlangen. Ihre Zähnchen befinden sich im gesamten Gaumen und transportieren die Nahrung nach hinten.

Von Weinbergschnecken. Ihre Zähnchen befinden sich auf der Zunge und wachsen ständig nach.

Kleiner Tipp: Die korrekte Antwort finden Sie im Beitrag auf dieser Seite

Von Häuslebauern und Schneckenkönigen

Das Wachstum des Schneckenhauses erfolgt in Schüben. Dadurch entstehen deutlich sichtbare Querstriche. Anhand dieser „Jahresringe“ lässt sich das Alter der Schnecke recht gut schätzen. Auch wenn bei gutem Futterangebot mehrere Striche innerhalb kur­zer Zeit entstehen können, sind die Übergänge zwischen Winterruhe und Früh­lings­wachs­tum meist deutlich zu erkennen. Schnecken haben in der freien Natur eine Le­bens­erwartung von acht bis zwölf Jahren. Gehegeschnecken können über zwan­zig Jah­re alt werden. „Jungschnecken haben schwarze Fühler, eine dunkle Ober­sei­te und brau­ne Gehäuse. Je älter die Schnecken sind, desto heller werden Kör­per und Häus­chen“, erklärt Albschneck-Züchterin Rita Goller.

Ein repariertes Schneckenhaus.

Bei Beschädigungen am Schneckenhaus erweisen sich Weinbergschnecken als wahre Häuslebauer: Sofern der Schneckenkörper nicht verletzt ist, können sie Schäden an ih­rem Gehäuse selbst reparieren. Oft werden abgebrochene Gehäuseteile zum Ver­schlie­ßen von Löchern verwendet.

Das Schneckenhaus hat fast immer die Form einer rechtsgängigen Spirale mit vier bis fünf Umwindungen. Höchstens eine von zehntausend Schnecken ist falsch gewickelt: ihr Gehäuse ist linksgängig, die Anordnung der inneren Organe spiegelverkehrt. „Schne­ckenkönige“ heißen diese seltenen Exemplare, deren Häuschen bei Sammlern be­gehrt sind, im Volksmund. Die Windungsrichtung eines Schneckenhauses ist ge­ne­tisch fest­gelegt, die seltenen Schneckenkönige sind bei der Fortpflanzung tech­nisch be­nach­tei­ligt, weil ihr Geschlechtsorgan auf der falschen Seite liegt.

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